The 6th Workshop in Dresden on HNR-specific challenges

18.-20.5.2012 at Militärhistorisches Museum der Bundeswehr Dresden

 

Report

by Martin Skoeries, also available on HSOZKULT:

Von der Tücke des Objekts – Werkstattgespräche zu theoretischen und methodischen Herausforderungen in der Historischen Netzwerkforschung. Dresden: Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden, 18.05.2012-20.05.2012.

Reviewed by Martin Skoeries
Published on H-Soz-u-Kult (August, 2012)
Von der Tücke des Objekts – Werkstattgespräche zu theoretischen und methodischen Herausforderungen in der Historischen Netzwerkforschung

Zu Beginn des Workshops stellte LINDA V. KEYSERLINGK (Dresden) zunächst den Tagungsort, das 2011 wiedereröffnete Militärhistorische Museum vor. Kurz verwies sie darauf, dass die Visualisierungsmöglichkeiten der Netzwerkforschung künftig durch eine Medienstation zum Netzwerk der am Staatsstreich vom 20. Juli 1944 beteiligten Personen in der Dauerausstellung des Museums genutzt werden sollen. Anschließend stellte Keyserlingk die Workshopreihe zur Historischen Netzwerkforschung (HNF) vor, in dem sie die Zielsetzung, die bisherigen Themen sowie die seit 2010 vorhandene Homepage zur Historischen Netzwerkforschung präsentierte, ehe die erste Sektion des aktuellen Workshops zu einer grundlegenden Positionsbestimmung der HNF inhaltlich eröffnet wurde.

Dies leistete FLORIAN KERSCHBAUMER (Klagenfurt) mit seinem Vortrag „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“ mit einer kleinen Historiographie der Netzwerkforschung. Durch Beispiele aus der Evolutions- und Naturgeschichte machte Kerschbaumer deutlich, wie vielfältig die methodischen und theoretischen Anknüpfungspunkte aussehen können. Grundlegend stellte sich die Frage, wie viel Quantität die Geschichtswissenschaft vertrage. Quantifizierung basiere nicht nur auf numerischen Verfahren, beruhigte Kerschbaumer zunächst und plädierte für einen selbstbewussteren Umgang des Historikers mit seinem Quellenmaterial, anknüpfend an die positivistischen Stichproben der Soziologie. Mit Linton Freeman sieht Kerschbaumer vier Stufen der Netzwerkforschung: Zunächst sei die Erkenntnis wichtig, dass eine gesellschaftliche Ordnung durch die Analyse der sie konstituierenden Beziehungen zielführend entschlüsselt werden kann. Dann könnten die eigentlichen Stufen der Netzwerkforschung, sprich Datenerhebung, Visualisierung und (computergestützte) Abstraktion, nacheinander erklommen werden. Wie weit der Historiker hierbei gehen will bzw. kann, bleibe ihm überlassen.

Die Entwicklung dieser Stufen und ihre Ausdifferenzierung stellte MATTHIAS BIXLER (Trier) dar. Er beurteilte den Status Quo der HNF im Rückbezug auf ihre eigene Wissenschaftsgeschichte. Ausgehend von ersten prosopographischen und strukturalistischen Ansätzen kam er zur Reinhardtschen Verflechtungsanalyse von 1979, deren Durchsetzung Bixler im Hinblick auf die fehlende Weiterentwicklung durch Reinhardts Schüler und die mangelnden technischen Voraussetzungen Anfang der 1980er-Jahre als gescheitert einstufte. Über die Historische Soziologie schlug Bixler den Bogen zu den gegenwärtigen Überlegungen der HNF. Interdisziplinarität sei der Schlüssel zum Erfolg. Der Vorteil der Geschichtswissenschaft läge dabei in der Tatsache, dass die Untersuchungsgegenstände abgeschlossene Gebilde sind und sich Netzwerke als Möglichkeitsräume zur Analyse kontrafaktischer Überlegungen anböten. Bixler plädierte in der Diskussion für eine qualitative HNF, die versucht Netzwerkeffekte, also aus der Struktur ableitbare Erkenntnisse, zu analysieren, ohne dabei bereits ein vor dem Untersuchungsdesign angestrebtes Ergebnis zu verfolgen. In der sich anschließenden Diskussion zur Positionsbestimmung der HNF wurde über die Abgrenzung zur Sozialen Netzwerkforschung ebenso debattiert wie über die Bewertung der Verflechtungsanalyse.

Die Sektion der Fallbeispiele zu beruflichen Netzwerken begann mit einem Vortrag von MALTE REHBEIN (Würzburg), der mit einem intertextuellen Netzwerk eine spezielle Facette der Netzwerkforschung aufzeigte. Nicht direkte Beziehungen zwischen Personen oder Gruppen sondern jene zwischen Textstellen und deren Referenzen stehen im Mittelpunkt seines Projekts zu einer handschriftlichen Kommentierung des Matthäus-Evangeliums aus dem 8. Jahrhundert. Anhand der Analyse dieses Referenz-Systems erhofft sich Rehbein Rückschlüsse auf den zeitgenössischen intellektuellen Kontext bzw. den „Wissensraum“ einer solchen Handschrift. Der Fokus auf die Intertextualität soll dabei eine analytische Lücke innerhalb der Digital Humanities zwischen Close und Distant Reading schließen. Die kodierten Daten des Kommentars und seiner referenzierenden Texte werden durch die Software Gephi visualisiert, wobei Distanzen auf den Grat der „Verwandtschaft“ (als qualitative Kategorie) zwischen der Handschrift und ihren Referenzen verweisen. Allgemein bestehe die Schwierigkeit in der Formalisierung geisteswissenschaftlicher Daten bzw. in der Quantifizierung von Qualität. Grundsätzlich müsse sich die Methodenwahl eines Historikers an einer vorher festgelegten Fragestellung orientieren und nicht umgekehrt und die Produkte einer netzwerkanalytischen Forschung dürften nicht als Ergebnisse, sondern müssten als weiterführende Werkzeuge verstanden werden.

ANTONIA LANDOIS (Würzburg) wandte sich dann wieder einer konkreten Person zu. Am Beispiel des Nürnberger Juristen und Humanisten Sixtus Tucher (1459-1507) stellte sie vor, wie man das soziale Netzwerk einer spätmittelalterlichen Person erschließen und visualisieren könnte, so dass quantifizierende und qualifizierende Analysen zum Umfeld eines Individuums möglich werden. Die Informationen hierzu müssten aus sehr unterschiedlichem Quellenmaterial gewonnen und kategorisiert werden. Eine Darstellung der persönlichen Verbindungen mache deutlich, dass ein Gelehrter wie eine „Spinne im Netz“ Karrieren verwalten konnte, andererseits aber durch seine Profession zu allen sozialen Schichten Bezugspunkte hatte. Tucher biete sich zu einer solchen exemplarischen Studie besonders an, da von und zu ihm seltenes Quellenmaterial in Form von umfangreichen Einladungslisten und Tischordnungen aus der Zeit um 1500 vorliege. Schon die Analyse dieser Stücke widerlege beispielsweise die Forschungsthese, dass „Kommerz“ und „Kultur“ sich um 1500 kaum direkt begegnet seien. Im Kontrast zu diesem ego-zentrierten Ansatz präsentierte JOHANNA RIESE (Halle/Saale) anhand der Dresdner Schuhmacherzunft netzwerktheoretische Überlegungen zur Analyse strukturbedingter Handlungsprozesse nach dem Mikro-Makro-Modell von Burt. Grundlage ihrer Datenerhebung sind die Rechtssupplikationen und deren Antworten, die von Zunftmitgliedern zu Streitigkeiten und Gerichtsprozessen verfasst wurden. Die Zunft wird hier als Interessenvertretung heterogener Akteure verstanden und bildet demnach den strukturellen Rahmen für die sozialen Beziehungen zwischen Zunftvorstand, Meistern und Gesellen. Die Konfliktregulierung innerhalb der Zunft sei im Wesentlichen auf die (vertraute) Struktur zurückzuführen. Für die Analyse solcher netzwerkabhängigen Handlungsmuster plädiert Riese für eine ganzheitliche Netzwerkforschung. Die Methodenlehre der Sozialen Netzwerkanalyse (SNA) und deren Bedingungen dürften nicht der Ausgangspunkt für die historische Problematisierung sein. Die HNF brauche neben der SNA und der theoretischen Fundierung auch die qualitative Auswertung und Interpretation der Ergebnisse, um relevante Netzwerkeffekte als innovative Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft rechtfertigen zu können.

Die Datenerhebung ist hierfür der erste und aufwendigste Schritt. CHRISTOPH KUDELLA (Cork) stellte in diesem Zusammenhang sein Big Data-Projekt zur Erfassung der Korrespondenz von Erasmus von Rotterdam bzw. die Vernetzung der Korrespondenten vor. Zunächst ging er auf ähnliche großangelegte Projekte ein und beleuchtete diese kritisch. Ziel seiner eigenen Untersuchung ist die Exploration einer dynamischen Struktur des Netzwerkes, wozu Kudella die Brief-Metadaten aus verschiedensten Editionen in einer relationalen Datenbank erfasst hat. Dabei ergaben sich einige praktische Probleme, wie uneinheitliche Namen oder mehrere Adressaten, wofür Kudella seine Lösungen aufzeigte. Bei der Visualisierung, wozu Gephi genutzt wurde, stellte sich hauptsächlich die Frage nach dem Umgang mit parallel edges, da Kudella mehr an einer dynamischen, als an einer globalen Darstellung interessiert sei. Diese Visualisierung soll sowohl egozentriert als auch als Gesamtnetzwerk mit den Kontakten zwischen den Alteri realisiert werden. Eine solche ganzheitliche Analyse sei allerdings nicht ohne Verzerrungen möglich, sodass eine grundlegende Fragestellung der HNF sein müsse, wie viele Schwächen eine Repräsentation haben darf, um noch aussagekräftig zu sein.

Das Visualisierungsproblem beschäftigte auch DANIEL REUPKE (Saarbrücken). In seinem Promotionsprojekt zur regionalen Kreditvergabe setzt sich Reupke mit einem Netzwerk zwischen Schuldnern und Gläubigern auseinander, welches er als ein Ordnungsschema (Jansen) versteht, das durch Komplexitätsreduktionen Vertrauen (Luhmann) schaffe und damit Sozialkapital (Bourdieu) generiere. Reupkes Quellenbasis bilden die notariellen Kreditverträge der drei Untersuchungsorte Merzig, Remich und Sierck-les-Bains. Methodisch werden nach der softwaregestützten Aufbereitung der Daten mit hohem Nachbereitungsaufwand Netzwerkvisualisierungen zur Ordnung der Daten erstellt. Diese Verlaufs- und Egonetzwerke sollen als Erklärungsmuster der Kreditvergabe in mikrohistorischer Perspektive herangezogen werden. Dabei bestehe die Schwierigkeit, zeitliche Verläufe abzubilden, da die zu einem Zeitpunkt bestehenden Verhältnisse nie vollständig quellenmäßig erfasst werden könnten. In diesem Zusammenhang seien auch Gesamtnetzwerke kritisch zu sehen. Weiterhin erforderten mathematische und netzwerktechnische Berechnungsverfahren eine homogenisierte Datenbasis und entsprechend vorgebildete Rezipienten. Generell könnten nicht alle Fragestellungen nur mit der HNF allein beantwortet werden, jedoch können viele Ergebnisse durch Visualisierung fassbarer und durch empirische Verfahren validier dargestellt werden, was Reupke insgesamt einen Methodenmix fordern lässt.

MARTIN SKOERIES (Leipzig) leitete die Sektion zu (klandestinen) Widerstandsnetzwerken ein. Er präsentierte sein Promotionsprojekt über die Vernetzung englischer Protestanten während der Regentschaft der katholischen Maria Tudor (1553-1558). Im Zentrum steht die Hypothese, dass die gesamte protestantische Elite Englands funktional untereinander vernetzt war, von den entlegensten Exilorten bis hinein in die Gefängnisse. Ziel der Vernetzung sei der Aufbau einer wirkungsvollen propagandistischen Opposition gewesen. Skoeries erhebt seine Daten über diese Beziehungen aus einer heterogenen Quellenbasis, die sich aus Briefen, Prozessakten, Staatspapieren, Testamenten und Martyrologien zusammensetzt. Angestrebt wird eine Visualisierung des Netzwerks, die die verschiedenen Rollen und Positionen der „Netzwerkler“ offen legt und eine neue historische Beurteilung der führenden Köpfe ermöglicht. Im Hinblick auf das Thema des Workshops stellte Skoeries fest, dass die größte Problematik neben der fragmentarischen Quellenlage sicherlich in der zeitlichen Rahmensetzung bestehe: Bildet das Netzwerk eine repräsentative Zäsur aus den fünfeinhalb Jahren ab, oder sollen alle Beziehungen während dieser Zeit in der Visualisierung subsummiert werden?

Interessant waren nun augenfällige Überschneidungen zum Vortrag von MARTEN DÜRING (Essen), der die Ergebnisse seines Promotionsprojekts über Berliner Hilfsnetzwerke für verfolgte Juden während des ‘Dritten Reichs’ vorstellte. Hilfsnetzwerke waren Düring zufolge keine geschlossenen und homogenen Gruppen, sondern bestanden vielmehr aus losen Verbindungen zwischen verfolgten und nicht verfolgten Akteuren, deren Ziele sich vielfach unterschieden und die aus unterschiedlichen Gründen aktiv wurden. Düring betonte, dass zwar viele dieser Netzwerke ihren Ursprung in homogenen resistenten Milieus (Martin Broszat) hatten, in denen sich spätere Helfer gegenseitig in ihrem Handeln bestätigten. Aber erst durch die Zusammenarbeit mit externen Helfern und durch die Mithilfe und die Vermittlungen von Verfolgten wurden diese Netzwerke in die Lage versetzt, Verfolgte effektiv vor der Deportation zu schützen. Insgesamt wirkten Netzwerkstrukturen in diesem Kontext sowohl als Ermöglichungsraum als auch restriktiv. So sorgten beispielsweise strukturbedingte Dynamisierungseffekte für ein unkontrollierbares Wachstum der Netzwerke und für die (teilweise ungewollte) Verstetigung des Hilfeverhaltens und führten damit letztlich zu deren Entdeckung und Zerschlagung. Nach diesen beiden Vorträgen wurde deutlich, dass durch die Netzwerkanalyse mitunter Parallelen zwischen geheimen Netzwerken unterschiedlichster Epochen bestehen. Nicht nur die Zeitgenossen beschäftigten ähnliche Fragen, sondern auch den Historiker, der sich mit dem Thema netzwerkanalytisch auseinandersetzt.

In dem ersten Vortrag der Sektion zu den methodischen und technischen Möglichkeiten der HNF setzte sich MICHAEL WOHLGEMUTH (Bielefeld) mit den Tücken der Datenmodellierung auseinander. Nach seiner theoretischen Einleitung, in der er die Bedeutung eines geeigneten Datenmodells für quantitative historische Fragestellungen herausstellte, wandte er sich einer Kurzvorstellung verschiedener Modellierungsansätze zu. Auch wenn seiner Meinung nach insbesondere die Technologien aus dem Umfeld des Semantic Web einen großen Mehrwert bieten, plädierte er dafür, den Einsatz relationaler Datenbanken wohlwollend zu prüfen. Mit seiner Forderung, die Historische Netzwerkforschung methodisch auf der Ebene der Datenmodellierung voranzutreiben, stieß Wohlgemuth grundsätzlich auf Zustimmung. Erneut wurde damit die Frage aufgeworfen, inwieweit Historikerinnen und Historiker sich selbst mit der Programmierung und Datenmodellierung befassen müssen, bzw. ab wann und in welcher Form sie auf externe Unterstützung anderer Fachbereiche zurückgreifen können und sollten.

Die Notwendigkeit von (fachfremden) Hintergrundinformationen für eine ernsthafte quantitative Arbeit offenbarte auch die Präsentation von ULRICH EUMANN (Köln). Er stellte ein „Making-Of“ seines Aufsatzes über Gestapo-Ermittlungsmethoden dar, der in dem aktuellen, der Historischen Netzwerkanalyse gewidmeten Band der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften erschienenen ist. Das Ziel bestand darin, mit Hilfe von Testvisualisierungen aufzuzeigen, wie man mit dieser genuinen Erkenntnismethode der Historischen Netzwerkforschung eine Untersuchung voranbringen kann. Er startete mit zwei Modellgraphen, mit deren Hilfe sich die eigenen Hypothesen verdeutlichen ließen. Modellgraphen könnten auch dabei helfen, sich die Erwartungen an die Netzwerke, die am Ende als Ergebnis herauskommen sollten, zu vergegenwärtigen. Eumann zeigte schließlich sechs Testvisualisierungen von 32, die er ursprünglich während der Arbeit an dem Aufsatz entwickelt hatte. Mit Hilfe von unterschiedlichen Elementbeschriftungen und der Typisierung von Akteuren konnte er den Prozess der Erkenntnis transparent machen. Zudem konnte er demonstrieren, welchen großen Wert Testvisualisierungen bei der Bildung und Verfeinerung von Hypothesen haben können.

Diese abschließende Sektion machte deutlich, dass die Aneignung von technischem Knowhow eine Grundproblematik der HNF ist. Ein Historiker muss seine eigenen Methodenwerkzeuge zunächst selbst verstehen, um sie dann anderen vermitteln zu können. Insgesamt wies der Workshop ein weiteres Mal die hohe Dichte und Varianz an Orten, Epochen, Themen und Herangehensweisen innerhalb der HNF auf. Trotz der technischen Voraussetzungen und der allgemeinen Quellenproblematik erweisen sich sowohl netzwerk-theoretische als auch –analytische Forschungskonzepte als zielführend und innovativ für die Erschließung geschichtswissenschaftlicher Forschungsdesiderate. Die größte Einigkeit im Hinblick auf die Zukunft der HNF bestand in einer methodischen Ausgewogenheit. Quantitative Analysen bedürfen einer (kritisch) qualitativen Auswertung auf einer theoretischen Grundlage. Allerdings sollten sich weder die zentrale Fragestellung noch die thematischen Schwerpunkte der Methodenwahl unterordnen. Dann kann die HNF ihr zweifellos enorm innovatives Potential ausschöpfen und zu einem nützlichen Werkzeug der Geschichtswissenschaft werden. Dafür warb dieser Workshop.

 

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