12.12.2009 – 13.12.2009 at the NS-Dokumentationszentrum Cologne
Report
by Verena Kücking also available at HSOZKULT:
In den letzten Jahren hat die Analyse und Darstellung von Netzwerken ein zunehmendes Interesse auch unter Historikern und Historikerinnen erfahren. Während zeitgenössische empirische Wissenschaften, wie die Soziologie und Ethnologie, Netzwerke nahezu ausschließlich anhand von eigens erhobenen Daten analysieren, steht die historische Netzwerkforschung hier vor einem fachspezifischen Problem: Die zur Verfügung stehenden Daten sind in der Regel sehr lückenhaft und bei den wenigsten Themen ist es möglich, Zeitzeugen zu befragen oder auf Befragungsdaten zurückzugreifen. Darüber hinaus beschäftigen sich Historiker und Historikerinnen in der Regel mit Zeitspannen, so dass auch die Komponente chronologischer Dynamik von Netzwerken ein zentrales Anliegen ist. Um systematische Möglichkeiten für die Lösung dieser und anderer Probleme zu erarbeiten und einen Austausch zwischen den Netzwerkforschern der Geschichtswissenschaft herzustellen, organisierten Mitarbeiter des Kölner NS-Dokumentationszentrums einen Workshop, der am 12. und 13. Dezember 2009 unter dem Motto „Grenzen und Chancen der historischen Netzwerkforschung“ stattfand. Der Workshop gliederte sich in zwei Themenblöcke. Am ersten Tag standen inhaltliche Fragen im Vordergrund, während am zweiten Tag die praktische Frage der Visualisierung von Netzwerken im Fokus des Interesses stand.
Im ersten Block des Workshops fand eine offene Diskussion vor dem Hintergrund im Vorfeld zirkulierter Thesen statt. Dabei waren grundsätzliche Fragen, ob die Netzwerkanalyse eher als Theorie, Methode oder rein heuristisches Mittel für die Geschichtswissenschaft zu nutzen sei, zentral. Einwände, dass sozialwissenschaftliche Kategorien wie „soziales Kapital“ und „Vertrauen“ gerade für Historiker schwer zu messen seien, sowie die Annahme, dass einige der üblichen Berechnungen in der Netzwerkanalyse auf Basis von historischem Quellenmaterial nur im Einzelfall überzeugend seien, wurden ebenfalls diskutiert. Daran anschließend stellte sich die Frage, wie sinnvoll mit den Informationslücken umgegangen werden könne. Der Hinweis, dass Daten auch in anderen Disziplinen nie vollständig seien, relativierte dieses Problem. Eine Möglichkeit, missing data zumindest einschätzbar zu machen, bietet hier vor allem eine Kreuzvalidierung verschiedener historischer Quellen.
Am Ende der Diskussion betonte Lothar Krempel, dass es nicht darum gehen könne, die Frage nach dem Sinn der historischen Netzwerkforschung mit „Ja oder Nein“ zu beantworten, sondern dass vielmehr immer die Frage im Fokus stehen müsse, welchen Zugewinn die Netzwerkforschung für einzelne Untersuchungen biete – jeweils in Abstimmung mit den zugänglichen Daten und Quellen.
Im ersten Vortrag stellten ULRICH EUMANN, THOMAS ROTH und JASCHA MÄRZ (Köln) ein laufendes Forschungsprojekt des NS-Dokumentationszentrums zum Kölner Widerstand der Arbeiterbewegung im Nationalsozialismus vor. Insbesondere Ulrich Eumann beschäftigt sich seit einiger Zeit mit den Netzwerken des Widerstandes. Grundsätzliches Problem des Projektes sei, dass nahezu ausschließlich Quellen von Seiten der Verfolger – vor allem Gestapoakten – zur Verfügung stünden, die nur ein lückenhaftes Bild des Kölner Widerstandes liefern. Dennoch sei gerade für die Widerstandsforschung die Netzwerkanalyse gewinnbringend, so könne vor allem auch das Vorgehen der Gestapo ganz deutlich sichtbar gemacht werden.
Die Netzwerkanalyse sei jedoch für das Projekt primär als heuristisches Mittel zu sehen, das es vereinfache, komplexe Verbindungen auf einen Blick zu erfassen, so Eumann. Die Anregung, ein „Quellencrossing“ vorzunehmen, also auch ergänzende Quellen zu den Gestapoakten mit in die Netzwerkdarstellungen einfließen zu lassen, stieß bei den Referenten eher auf Ablehnung, da es sich bei den alternativ verfügbaren Quellen um vereinzelte, subjektive Erinnerungen handele, die zum Teil erst lange nach den Ereignissen erstellt worden seien.
Im zweiten Vortrag stellte ANDREAS HAKA (Stuttgart) sein Dissertationsprojekt, das sich mit der deutschen Maschinenbauforschung zwischen 1920 und 1970 befasst, vor. Haka untersucht vier Themenfelder mit Hilfe der Netzwerkanalyse: Erstens die Hochschulnetzwerke der BRD und der ehemaligen DDR, wobei die Professoren im Fokus stehen; Zweitens die wissenschaftlichen Netzwerke, basierend unter anderem auf bewilligten DFG-Forschungsanträgen; Drittens wissenschaftliche Netzwerke wie gemeinsame Publikationen und Mitgliedschaften in Fachgremien. Und viertens möchte Haka versuchen, das Kommunikationsnetzwerk der Maschinenbauforschung zwischen Ost und West zu rekonstruieren. Gerade beim letzten Punkt sei sein Interesse sehr groß, die Quellenlage jedoch sehr dünn. Der Referent zeigte erste Visualisierungsvorschläge erstellter Netzwerke und versuchte dabei auch, die Dynamik in verschiedenen Zeitstufen zu berücksichtigen. Die vorgestellte Grafik war jedoch für den unwissenden Betrachter zunächst nur mit zahlreichen Erläuterungen verständlich.
Als Ergebnisse seiner bisherigen Forschungsarbeit stellte er unter anderem zwei Aspekte vor: Zum einen, dass Studentenverbindungen als eine Art „geheimes Netzwerk“ im Hintergrund zu sehen sind, welche oft die engsten Relationen der Universitätsprofessoren widerspiegeln. Und zum anderen ist der hohe Grad personeller Kontinuität in den Universitäten nach dem Krieg auffallend.
Anschließend stellte WILKO SCHRÖTER (Wien) sein Dissertationsprojekt vor: die Demographie des Deutschen Hochadels vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Schröter gehe es in seinem Projekt nicht darum, große Stammbäume als Netzwerke zu visualisieren, sondern vielmehr versuche er, eine Ereignisdatenanalyse anhand von Netzwerken darzustellen. Darin sollen alle genealogischen Ereignisse wie Geburt, Scheidung, Heirat und Tod berücksichtigt werden. Schröter möchte Netzwerke erstellen, die besonders auch auf die Alternativmöglichkeiten im Heiratsverhalten hinweisen und damit einhergehend deren mögliche Bedeutung analysieren. Inwiefern die Netzwerkanalyse vorteilhaft für Schröters Projekt ist, wurde in dem Vortrag nicht ganz deutlich.
Als zentrale Erkenntnis des ersten Tages zeigte sich, dass es ‘die’ historische Netzwerkforschung nicht gibt, sondern letztlich doch bei jedem Forschungsvorhaben neu austariert werden muss, in welcher Form der Ansatz gewinnbringend genutzt werden kann. Auch die Grenzen des Ansatzes müssen jeweils in Abstimmung mit der Fragestellung neu zu definiert werden. Anhand der Quellen und der Netzwerkstruktur müssen sich Historiker und Historikerinnen jeweils das richtige Verfahren aus dem Methodenkanon der Netzwerkforschung herausziehen.
Die zweite Sektion war den praktischen Erfahrungen bei der Visualisierung von Netzwerken gewidmet. Hier sollte der Austausch vor allem dazu dienen, spezifische Probleme der historischen Netzwerkforschung bei der Nutzung der in der Regel aus den Sozialwissenschaften stammenden Programme auszuloten und zu überwinden. UCInet, Pajek, Node XL und ORA standen dabei im Fokus des Interesses.
LOTHAR KREMPEL (Köln), der seine Habilitationsschrift über die Visualisierung von Netzwerken verfasst hat, ging in seinem Vortrag vor allem auf grundsätzliche Aspekte der sozialen Netzwerkanalyse ein. Dabei zeigte er anhand von Beispielen, inwiefern die verfügbaren Informationen von Verbindungen im zweidimensionalen Raum bildlich erfasst werden können. Neben solchen grundlegenden Punkten griff Krempel konkrete Fragen des Vortages auf. Dabei ging es unter anderem um sinnvolle Zentralitätsberechnungen in Abstimmung mit den jeweiligen Forschungsanliegen. In seinen detaillierten Wortbeiträgen gab Krempel an vielen Stellen entscheidende Hinweise und wichtige Impulse für die Teilnehmenden.
MARTEN DÜRING (Essen) forscht zu jüdischen Hilfsnetzwerken im Zweiten Weltkrieg. Er berichtete in seinem Vortrag von seinen praktischen Erfahrungen mit den Programmen NetDraw, NodeXL und ORA. Zunächst stellte Düring, der erst seit kurzen Erfahrungen mit NodeXL sammelt, dessen Vor- und Nachteile vor. Positiv sei unter aderem, dass man Daten sehr einfach aus Excel importieren könne, nicht laufend gespeichert werden müsse und dass man auch für die Darstellung von Zeitverläufen ansprechendere Möglichkeiten als zum Beispiel in NetDraw und Pajek habe. Abschließend verglich Düring in einer Tabelle die Visualisierungsprogamme NetDraw, NodeXL und ORA unter verschiedenen Aspekten wie Anzahl der Klicks, Kompatibilität, Handling multipler Beziehungen und Möglichkeiten in der Visualisierung. Düring gelang es, Vor- und Nachteile der genannten Programme nachvollziehbar gegeneinander abzuwägen.
Auch LINDA KEYSERLINGK (Dresden) erläuterte anhand Ihrer Daten praktische Erfahrungen und Probleme mit den Programmen der Sozialen Netzwerkanalyse. Keyserlingk geht in Ihren Untersuchungen den Fragen nach, wie und wann die Netzwerke des 20. Juli 1944 entstanden und welche Besonderheiten sie aufwiesen. Obwohl es zum 20. Juli eine Fülle an Forschungsliteratur gebe, sei die Analyse des Netzwerks bisher nur rudimentär erfolgt, so Keyserlingk. In ihrem Fall habe sich die Netzwerktheorie insofern bewährt, als sich vor allem die Modelle der Balancetheorie und der Cliquenbildung bestätigten. Anhand einer Legende entschlüsselte die Referentin zunächst die Zeichen und Farben des Gesamtnetzwerkes. Durch die Darstellung des Netzwerkes zu verschiedenen Zeitpunkten (1933, 1938, 1939 und 1940/41) stellte sie anschließend die Dynamik des Netzwerkes dar. Fragen, welche Keyserlingk selbst an die Teilnehmenden stellte, waren: Wie lassen sich „Wackelkandidaten“ in ein Netzwerk integrieren, und auch als solche kenntlich machen? Warum sehen die Netzwerke mit identischen Daten zum Teil unterschiedlich aus: Warum sind einzelne Linien mal länger und mal kürzer? Insbesondere die letzte Frage entfachte Diskussionen. Sofern es als Ergebnis bezeichnet werden kann, schloss das Gespräch damit, dass bei solchen Netzwerken immer die Frage der Interpretation entscheidend sei. Wer sind die Nachbarn einzelner Akteure und welche Beziehungen haben sie? Dies sei als zentrale Information aus dem Netzwerk abzulesen, anstatt mit dem Millimeterlineal die Kanten zu vermessen. Warum die Programme mit ihren komplexen Algorithmen zum Teil einzelne Knoten trotz identischer Daten verschieben, konnte nicht geklärt werden.
ULRICH EUMANN stellte einen spezifischen Weg zur Visualisierung von Netzwerken mit kostenloser open source Software und der Vektorgraphenformel SVG vor. Besonders gelungen ist hier letztlich die animierte Darstellung eines dynamischen Netzwerkes des Kölner Widerstandes, das mit nur wenigen Punkten beginnt und dann zunehmend wächst und komplexer wird. Auch wenn solche animierten Netzwerke in wissenschaftlichen Publikationen nur als Einzelbilder verwendet werden können, zeigte Eumann dennoch einen gelungenen Versuch, die Dynamik eines Netzwerkes zu visualisieren.
Die Abschlussdiskussion fiel insgesamt positiv aus. Die Teilnehmenden verständigten sich darauf, einen solchen Workshop zur historischen Netzwerkforschung künftig halbjährlich zu organisieren. Denn trotz der jeweils im Einzelfall zu entscheidenden Grenzen der historischen Netzwerkforschung war es gewinnbringend für die Beteiligten, sich darüber auszutauschen. Der Frage, wie der konkrete Zugewinn für die Geschichtswissenschaft durch den Netzwerkansatz aussieht, soll die Leitfrage des zweiten Treffens im Mai sein.
Program
Konferenzübersicht:
Sektion I: Inhaltliche Fragen zur Historischen Netzwerkforschung
Begrüßung durch Karola Fings, stellv. Direktorin des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln
Chancen und Grenzen der Historischen Netzwerkforschung.
Offene Gesprächsrunde auf der Basis von Thesen
Ulrich Eumann, Jascha März und Thomas Roth (NS-Dokumentationszentrum Köln): Netzwerke des Kölner Widerstands
Andreas Haka (Universität Stuttgart): Netzwerke in der deutschen Maschinenbauforschung (1920-1970)
Wilko Schroeter (Universität Wien): Das Heiratsnetzwerk des deutschen Hochadels von 1600-1900
Führung durch das EL-DE-Haus (1935-1945 Sitz der Kölner Gestapo)
Sektion II: Praktische Erfahrungen bei der Visualisierung von Netzwerken
Lothar Krempel (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln): Einführung in die Visualisierung von Netzwerken
Marten Düring (Kulturwissenschaftliches Institut Essen) und Linda Keyserlingk (Universität Potsdam): Erfahrungen mit UCINet, NetDraw und NodeXL
Ulrich Eumann (NS-Dokumentationszentrum Köln): Visualisierung mit Pajek und SVG
ZitierweiseTagungsbericht Workshop „Historische Netzwerkforschung“. 12.12.2009-13.12.2009, Köln, in: H-Soz-u-Kult, 03.02.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2982>.