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From:    Eva Bretón Pérez <evabretonperez@t-online.de>
Date:    30.04.2014
Subject: Tagber: Umweltgeschichte als Verflechtungsgeschichte.
        Potentiale der Mediävistik
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Margit Mersch, Universität Kassel
05.02.2014, Kassel

Bericht von:
Eva Bretón Pérez, Seminar Umweltgeschichte des Mittelalters, Universität
Kassel
E-Mail: <evabretonperez@t-online.de>

Ist die Umweltgeschichte in Deutschland schon seit längerem etabliert,
in der öffentlichen Diskussion jedoch kaum sichtbar, wird sie in anderen
Ländern hingegen, wie zum Beispiel Frankreich, wesentlich lebendiger
diskutiert. Zudem ist die Umweltgeschichte in viele Einzelfächer
verlagert, was es schwierig macht, über "DIE Umweltgeschichte" zu
sprechen. Deshalb wurde bei der Tagung in Kassel die Frage nach den
einzelnen Beiträgen dieser Einzelfächer zur Umweltgeschichte gestellt.

Die Tagung stand am Anfang einer Reihe von Workshops, die in Zukunft in
Kassel stattfinden werden. Ziel der Veranstaltungen soll es sein,
auszuloten, welche spezifischen Beiträge die historischen Fächer zu
Inhalten und Analyseansätzen des interdisziplinären Forschungsfeldes
Umweltgeschichte erbringen können. Deshalb sind für die Zukunft weitere
Workshops aus Sicht der Alten Geschichte, der Frühneuzeitlichen sowie
der Neuesten Geschichte geplant.

Die Histoire croisée (Verflechtungsgeschichte) ist ein Ansatz für
multiperspektivistische Geschichtsschreibung und gilt auch für die
Umweltgeschichte. Verflechtung steht für gewachsene und produzierte
komplexe Beziehungsmuster: etwas mit etwas verflechten, etwas verbinden,
eng in Beziehung setzen, einen Zusammenhang herstellen. Um einen
ganzheitlichen Blick zu bekommen, ist es erforderlich, dass die
Umweltgeschichte mit anderen gesellschaftswissenschaftlichen und
naturwissenschaftlichen Disziplinen zusammenarbeitet, eine Verbindung
schafft. So wurden in dieser ersten Veranstaltung die verschiedenen
Ansätze zum Thema aus den Perspektiven der Historischen Anthropologie,
Historischen Geographie, Katastrophengeschichte, Medizingeschichte und
Stadtgeschichte diskutiert und die Potentiale und Widerstände der
Analyse mittelalterlicher Daten- und Quellenbestände im Hinblick auf
umwelthistorische Fragen erörtert.

Da Lehrstühle für Umweltgeschichte rar sind und ein eigener Studiengang
in Deutschland nicht existiert, ist nach Bernd Herrmann die
Umweltgeschichte auch mehr ein interdisziplinäres Wissensfeld als eine
Disziplin oder ein Fach. Deshalb, so MARGIT MERSCH (Kassel) in ihrem
Einführungsbeitrag, stelle der Untertitel der Tagung die Frage nach den
Potentialen der Einzelwissenschaften und nach den Modi der
Zusammenarbeit. Zwar gebe es an ein paar Universitäten in Deutschland im
Bereich der Neueren Geschichte Schwerpunkte mit Bezug zur
Umweltgeschichte, andererseits müsse man bei umweltgeschichtlicher
Forschung auch bei den Anthropologen, Geographen, usw. nach
Anknüpfungspunkten suchen. Es stelle sich die Frage, wodurch sich ein
spezifischer umwelthistorischer Zugang auszeichne und was einzelne
Fachgebiete / Disziplinen zu dem Thema leisten können. Eine gegenseitige
Ergänzung in interdisziplinärer Zusammenarbeit sei hier das Mittel der
Wahl, um stets drohende thematische und analytische Beschränkungen in
der Umweltgeschichte zu überwinden.

Abschließend stellte Mersch die Frage nach den Begrifflichkeiten, die
durchaus schwierig seien. Im Hinblick auf eine gemeinsame Definition sei
zumindest soweit Einigkeit zu konstatieren, dass es bei Umweltgeschichte
"irgendwie" um Mensch-Umwelt-Beziehungen ginge. Stehen sich hier
begrifflich scheinbar der Mensch und die Umwelt gegenüber, so muss
andererseits daran erinnert werden, dass der Mensch Teil der Natur ist
und deshalb nur die Wechselwirkungen zwischen den Teilen der Natur das
Erkenntnisobjekt der Umweltgeschichte sein könne.

Im ersten thematischen Vortrag der Tagung referierte GERRIT J. SCHENK
(Darmstadt) über Chancen, Probleme und Grenzen des Lernens aus der
Geschichte natürlich induzierter Katastrophen. Kulturgebundenheit sei
als Schlüssel zum Verständnis aktueller Katastrophen zu nutzen. Es
stelle sich jedoch die Frage, ob Erfahrungen und Erkenntnisse von
mittelalterlichen Katastrophen auch heute noch zu einem "Lernen aus
Katastrophen" führen können bzw. ob dies noch sinnvoll sei. Denn es sei
eher so, dass Zeitgenossen aus den Katastrophen ihrer Zeit lernen
würden, während die direkte Übertragung auf die heutige Zeit schwer,
wenn nicht sogar unmöglich sei, denn heutige / spätere (Wert-)Maßstäbe
verhindern/-mindern das Lernen aus Katastrophen. So würden Katastrophen
in der Vergangenheit oft als Zeichen Gottes gesehen und im den
religiösen Bereich verortet und erklärt. Was zudem für uns heute nach
Astrologie klinge, wurde früher unter dem Bereich Astronomie als
Wissenschaft verstanden. Des Weiteren führte Schenk aus, dass
historische Analysen nur Strukturen identifizieren und somit lediglich
Orientierungswissen liefern würden, weshalb die historische
Katastrophenforschung dringend Interdisziplinarität benötige, zum
Beispiel die Zusammenarbeit mit der Archäologie. So könne etwa durch
typische Gebäudeschäden Rückschlüsse auf Stärke, Epizentrum etc. von
Erdbeben getroffen werden. Zudem müsse die Rekonstruktion durch
historische Quellen mit Daten aus den naturwissenschaftlichen
Disziplinen verglichen werden. Der Bau von Staudämmen, Dämmen etc.
beruhe unter anderem auf der Grundlage historischer Erkenntnisse.
Hochwassermarken zeigen uns heute einerseits die Reichweite der
damaligen Flut, andererseits muss berücksichtigt werden, dass sich die
meisten Orte durch Bebauung/Umbau stark verändert haben. Bestimmte
Wasserstandsmarken an einem Haus zum Beispiel verlören für uns heute
dadurch an Aussagekraft. Viel eher habe eine solche Inschrift
(vermutlich auch schon damals) eine "didaktische" Funktion als Mahnmal.

WINFRIED SCHENK (Bonn) behandelte die fachübergreifenden Zugänge und
Arbeitsfelder der Historischen Geographie im Forschungsfeld "Historische
Mensch-Umwelt-Beziehung". In der Historischen Geographie, welche nur in
Deutschland existiere, sei ein essentieller Bestandteil die
Mensch-Umwelt-Beziehung. Vor allem beschäftige sie sich mit den
Siedlungsbewegungen sowie dem Wandel bestimmter Räume und Landschaften.
Dabei würden spezielle Teilsysteme beobachtet und aus besonderen
Blickwinkeln auf Landschaften und Räume geschaut, die für bestimmte
historische Ereignisse von Bedeutung waren. Das einzig Beständige dabei
sei der Wandel. Je mehr Menschen in einem Raum lebten, desto größer sei
der Zugriff auf die Natur, die Ressourcen. Dies schlüge sich unter
anderem in Rodungen oder auch Wiederbewaldung nieder. Dadurch gebe es
jedoch auch Probleme auf vergangene Landschaftszustände
zurückzuschließen, da sich nicht sicher sagen lasse, welche Elemente,
die wir heute sehen, noch "natürlich, ursprünglich" seien, bzw. wann sie
verändert wurden. Durch die Bodenbeschaffenheit könnten zum Beispiel
viele Informationen gewonnen werden, jedoch sei der Wandel nur bis zu
einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit zurück zu verfolgen.
Auch das vorhandene Kartenmaterial reiche nicht bis ins Mittelalter
zurück, zumindest nicht das für Mitteleuropa. Dennoch bietet die
"Landschaft als Archivalie" viele Rückschlüsse auf ehemalige Flussläufe,
Kultur- und Siedlungslandschaften, regionale Artenvielfalt, die
Bevölkerungsdichte einer Region etc. So sei die historische Geographie
ein "Hybridfach", in dem sowohl Geistes- und
Gesellschaftswissenschaftler als auch Naturwissenschaftler vertreten
sind. Als besonderes analytisches Potential der historischen
Wissenschaften wurde das Beispiel des Palimpsest genannt: die Landschaft
lasse sich betrachten wie ein radiertes und überschriebenes Pergament.

KAY PETER JANKRIFT (Augsburg / Münster) verdeutlichte anschließend, dass
auch die Medizingeschichte einen Beitrag zur Umweltgeschichte leisten
könne. Zwar blicke die Forschung der Medizingeschichte eher selten auf
die vormoderne Medizin, da Lehrstühle der Medizingeschichte sich
überwiegend mit deren Geschichte ab dem 19. Jahrhundert beschäftigten.
Dennoch ließen sich neben erzählende Textquellen, Sachquellen und
Bildquellen der Medizin / Pathologie auch durch Knochen einige
Erkenntnisse gewinnen. Anhand von Knochenfunden ließen sich
Gewalteinwirkungen oder manche Krankheiten nachweise. Die Lepra, so
Jankrift, hinterließe zum Beispiel Spuren am Körperskelett. So stellte
in den 1960er-Jahren ein dänischer Wissenschaftler heraus, dass bei
Leprakranken oft die Schneidezähne fehlten, die Nasenscheidewand
eingefallen wäre, der Gaumen durchbreche und die Knochen durch die
Verdickung der Nerven aufgerieben würden. Die Pest hingegen hinterließe
keine Spuren am Skelett, jedoch könne heutzutage in den Zahnwurzeln
menschlicher Überrest Resterreger mittels molekulargenetischer
Untersuchungen nachgewiesen werden. Zu beachten gilt es außerdem, dass
zum Beispiel die Krankheitsbilder des Mittelalters nicht identisch mit
den Krankheiten von heute seien. Die überlieferten Textquellen benutzen
das Vokabular ihrer Zeit und beziehen sich auf die Vier-Säfte-Lehre,
sodass wir nicht einfach rückwirkend Diagnosen stellen oder Behandlungen
kritisieren könnten. Ein weiterer Schwerpunkt der Medizingeschichte
heutzutage sei der ethische Aspekt, so Jankrift. So würde es zum
Beispiel für Museen einen Leitfaden zum ethischen Umgang mit
menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen geben, der sich für
einen sensiblen und bewussten Umgang mit menschlichen Überresten
beschäftige. In Deutschen Museen befände sich eine Vielzahl an Exponaten
menschlichen Ursprungs (Skelettteile, Mumien, Instrumente aus
menschlichen Knochen etc.).

Der Frage, ob die Verflechtung von Stadt und Land ebenfalls als
Perspektive der Umweltgeschichte des Mittelalters gesehen werden könne,
ging OLIVER PLESSOW (Kassel) nach. Die Stadt, so Plessow, sei keine
Entität, die isoliert vom (Um-)Land betrachtet werden könne, sondern
beide träten in Interaktion miteinander. Die Stadt verändere das
Landschaftsbild. So sei vor allem Wasser von zentraler Bedeutung für
Stadtgründungen, da es zum einen als Verteidigung (Wassergräben) und zum
anderen als Energieträger (Mühlen) diente. Bäche wurden umgeleitet, um
Stadtteile mit (fließendem) Wasser zu versorgen. Dies und die
Erschließung neuer Landschaften durch Siedlungsbauten sowie die
Landwirtschaft veränderten die Landschaft nachhaltig. Am Beispiel der
Stadt Münster verdeutlichte Plessow, wie sich die umliegende Landschaft
im Laufe der Siedlungsgeschichte veränderte.

Zuletzt referierte BERND HERRMANN (Göttingen) über die Begrifflichkeiten
für die Umweltgeschichte des Mittelalters und begann mit dem Diktum von
Richard White, man könne die Geschichte nicht ohne Umweltgeschichte
verstehen und andersherum (Richard White, Organic Machine, New York
1995), um sogleich zu erklären, dass der erste Teil dieser Feststellung
erkenntnistheoretisch richtig sei, jedoch trivial. Der zweite Teil
jedoch sei ein Fehlschluss, da die Umweltgeschichte auch ohne den
Menschen existieren würde. Dennoch, selbst im Fall der teilnahmslosen
Betrachtung eines Ökosystems durch den Menschen, so Herrmann, würde
dieser zu einem Bestandteil dieses Systems. So könne die Umwelt
lediglich umschrieben werden. Dennoch sei die naturwissenschaftliche
Herangehensweise, die nach Strukturen suche, essentiell und gerade auf
Grund dessen könne eine Verflechtungsgeschichte bzw. die Konstruktion
einer solchen nicht nötig / hilfreich sein, da sich die Historischen
Wissenschaften hingegen auf individuelle Akteure stützen. Auf die Frage
nach den Potentialen der Mediävistik antwortete Herrmann mit der
Gegenfrage: wieviel Mittelalter strukturell in heutigen
Umweltsituationen stecke.

Den Vorträgen schloss sich am Ende der Tagung eine Diskussionsrunde
aller Teilnehmer an. Die lebhafte Resonanz bei Referenten und Publikum
zeigt das große Interesse an mittelalterlicher Umweltgeschichte. Mit
Spannung können deswegen weitere Veranstaltungen erwartet werden.

Konferenzübersicht:

Margit Mersch (Kassel), Begrüßung und Einleitung

Gerrit J. Schenk (Darmstadt), Aus der Geschichte lernen? Chancen,
Probleme und Grenzen des Lernens aus der Geschichte natürlicher
Katastrophen

Winfried Schenk (Bonn), Fachübergreifende Zugänge und Arbeitsfelder der
Historischen Geographie im Forschungsfeld "Historische
Mensch-Umwelt-Beziehungen"

Kay P. Jankrift (Münster / Augsburg), Knochen erzählen. Medizinische
Aspekte der Umweltgeschichte

Oliver Plessow (Kassel), Verflechtung von Stadt und Land als Perspektive
einer mittelalterlichen Umweltgeschichte?

Bernd Herrmann (Göttingen), 15 Minuten praktische Theorie: Mehr
Begrifflichkeiten für die Umweltgeschichte (des Mittelalters)!
Indikatoren eines fortschreitenden Verständnisses oder Camouflage für
dessen Stagnation?

Kommentar/Schlussdiskussion

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